Berlinale-Wettbewerb : Dieses Verlangen nach dem Bösen
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Der Mensch ist kein hässliches Tier: „Dau. Natasha“ will auf der Berlinale radikal sein, ist aber zynisch und würdelos. Welket Bungué indes trägt eine Neuverfilmung von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ über manche Schwächen.
So, da haben wir nun also den Skandalsalat: Ein Film, der sowohl von feministischen Aktivistinnen wie auch dem Putin-treuen russischen Kulturministerium abgelehnt wird, dem die Zensoren in Moskau „Propagierung von Pornographie“ vorwerfen und dem bei uns schwere Missbrauchsvorwürfe gemacht werden. Man sieht darin, wie einer Frau von einem stiernackigen KGB-Mann in einer Gefängniszelle die Kleider vom Leib gerissen werden, wie sie brutal geohrfeigt wird, sich splitternackt auf einen Schemel setzen und dann unter Androhung von Gewalt eine leere Cognacflasche in ihre Vagina einführen muss.
Fünf Sekunden lang zeigt die Kamera das in widerwärtiger Gelassenheit, führt vor, wie die Gequälte die Flasche unter den lüsternen Augen des Schergen langsam vor und zurück schiebt. Auf seinen Befehl hin hatte sie zunächst instinktiv gerufen: „Das werde ich nicht tun!“, und damit beim Zuschauer für einen Moment die Hoffnung aufkommen lassen, dass sie aus ihrer Rolle fallen könnte, sich der Anweisung widersetzen, das Experiment, als dessen Teil sie sich hier präsentiert, selbstbewusst abbrechen würde. Stattdessen macht sie uns zu dumpfen Zeugen ihrer brutalen Folterung. Was soll das? Meint hier jemand uns vorführen zu müssen, dass uns Bilder nicht mehr erschrecken? Dass wir, vom vernetzten Wegschauen völlig verdorben, alles hinnehmen?
Nein, tun wir nicht! Das, was der russische Filmemacher Ilya Khrzhanovsky und die gleichberechtigt als Verantwortliche genannte Maskenbildnerin Jekaterina Oertel uns hier als radikale Kunst präsentieren, ist nicht einfach pornographisch, sondern zynisch und würdelos. Denn es handelt sich bei „Dau. Natasha“ nicht um Fiktion, nicht um einen effektvoll gestalteten Spielfilm, sondern um eine Wirklichkeits-Doku mit improvisierenden Laiendarstellern. Ein live gefilmtes Langzeitmenschenexperiment im ukrainischen Charkiw, wo Khrzhanovsky mit dem Geld eines zwielichtigen russischen Oligarchen das totalitär geführte Institut des sowjetischen Physikers Lew Landau in einem alten Schwimmbad nachbauen und zwischen 2009 und 2011 von ungefähr vierhundert Menschen bevölkern ließ, die sich vorab damit einverstanden erklärt hatten, in „Big Brother“-Manier ohne festes Drehbuch nur mit groben Charakterprofilen rund um die Uhr vom Fassbinder-Kameramann Jürgen Jürges gefilmt zu werden.
Latente Aggression oder plumpe Exzesssucht
Die Menschen, die sich uns hier in antiillusionärer Schutzlosigkeit zeigen, sind keine Schauspieler, sondern ausgestellte Alltagstypen in einer historisch hyperkorrekten Umgebung der dreißiger Jahre. Natasha, die gequälte Kantinenkellnerin in jenem aus über siebenhundert Stunden Drehmaterial ausgekoppelten Film, der im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale läuft, ist offensichtlich eine filmisch unerfahrene Frau, die zufällig auf dem Markt von Charkiw gecastet wurde. Ihr Misshandler war auch im wirklichen Leben ein KGB-Mann, der in sibirischen Lagern gearbeitet und ein Gefängnis geleitet hat. Seine Foltermethoden sind also echt und dürfen hier live und unter optimalen Lichtverhältnissen angewandt werden. Es geht ja um den Sog des Authentischen, des realistisch Abgründigen.
Der „Dau“-Film hat auch deshalb ein solches Provokationspotential, weil er die düsterste Kehrseite unseres Zuschauerbewusstseins berührt: Jenes voyeuristische Verlangen nach der rohen, akuten Wirklichkeit, wie es sich beispielsweise auch in einem brutalen Boxkampf oder einem Amateur-Porno befriedigt findet. Macht, Sex und Gewalt sind die zentralen Triebfelder dieser (wohl vornehmlich männlichen) Sehnsucht. Und genau auf denen tobt Khrzhanovsky sich in seinem megalomanen „Immersions“-Projekt aus. Es gibt wenige Einstellungen, die nicht von latenter Aggression oder plumper Exzesssucht definiert sind, es wird gesoffen und geflucht, gestritten, geschlagen und gevögelt. Die Kamera verfolgt das Gewirr der Dialoge und Vorgänge mit sehr wenigen Schnitten, begleitet eine Gruppe von Physikern in einen Laborraum, ist bei den betrunkenen Kellnerinnen in der Kantine, schaut zu beim explizit einvernehmlichen, aber nicht weniger unansehnlichen Sex zwischen Natasha und einem französischen Physiker, hält drauf, wenn einem nackten Mädchen in der Badewanne immer wieder Wasser ins Gesicht geschaufelt wird, und steht eben auch bei der Flaschenszene kommentarlos daneben.