Meinung | Berlinale 2022 - Sagt die Berlinale ab!

Erste Plakate der 72. Internationalen Filmfestspiele hängen am Potsdamer Platz. (Quelle: dpa/Jens Kalaene)
Bild: dpa/Jens Kalaene

Die diesjährige Berlinale findet wieder als Präsenz-Filmfestival statt. Am Dienstag hat das Festival sein Programm veröffentlicht. Ein Onlineangebot wird es nicht geben, man verweist auf das Hygienekonzept. Das ist Realitätsverweigerung, findet Anna Wollner.

Die Berlinale ist mit einem blauen Auge davongekommen. 2020 im ersten Jahr der Pandemie. Der erste bestätigte Corona-Fall in der Stadt fiel mit dem Publikumstag zusammen. Das Pandemie-Gefühl war damals noch weit weg. Im vergangenen Jahr hat die Leitung um Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek rechtzeitig für die Branche im Frühjahr auf Online umgestellt und dem Berliner Publikum ein cineastisches Sommermärchen beschert. Im Freiluftkino.

Ein Präsenzfilmfestival ist grob fahrlässig

Aber das besagte blaue Auge – die Berlinale will in diesen Tagen nicht mit einem davonkommen. Das Beharren auf einer Präsenzveranstaltung auf dem Höhepunkt der Welle - mit einer hochansteckenden Variante, auch in Zeiten von Impfungen, Boostern, Abstandhalten und Masketragen - ist ein Schlag ins Gesicht derer, die sich die letzten zwei Jahre in Solidarität geübt und an die Regeln gehalten haben.

Ein Präsenz-Flmfestival in einer Stadt stattfinden zu lassen, die nicht nur deutschlandweit die höchsten Inzidenzen hat, sondern die sich auch darauf vorbereitet, dass in den nächsten Wochen die kritische Infrastruktur zusammenbricht, die eine Regierende Bürgermeisterin hat, die verlangt, dass auch asymptomatisch Infizierte in eben diesem Bereich weiter zur Arbeit gehen, um die Stadt am Laufen zu halten, ist grob fahrlässig. Kitas, die geschlossen sind – weil entweder alle in Quarantäne oder Isolation sind oder schlicht gesundes Personal fehlt, um die Kinder zu betreuen, Schulen ohne Präsenzpflicht, Eltern zwischen Care-Arbeit, Home-Schooling und Home-Office. Hauptsache der rote Teppich liegt.

Hollywoodstars reisen gar nicht erst an

Auf dem von Wissenschaftlern prognostizierten Peak der Welle wird der Potsdamer Platz zum Ort eines Präsenz-Filmfestivals. Ein Ort der Begegnung. Bei einem Filmfestival geht es nicht nur um das kollektive Erleben von Filmen auf der großen Leinwand, es geht um den Austausch miteinander. Ein Austausch, der in diesem Jahr nur einer sehr privilegierten Gruppe zustehen wird. Journalist:innen mit Kindern sind defacto ausgeschlossen. Internationale Journalist:innen sagen zahlreich ab - ob wegen eines täglich neuen Hygenie- und Testkonzeptes oder der Angst vor einer Isolation in einem Hotel und einem vorverlegten Ende der Berlinale-Berichterstattung. Nennenswerte Hollywood-Stars reisen gar nicht erst an.

Dabei geht es gar nicht nur um das Ansteckungsrisiko im Kino. Maske tragen - 50-prozentige Auslastung, Online-Ticketsystem mit Schachbrettmuster-Bestuhlung - das Kino an sich gilt als relativ sicher. Aber spätestens bei der Fahrt in der vollen U-Bahn, dem Anstehen an Teststationen und der Ausgabe von Bändchen, die über den Impf- und Teststatus auf einen schnellen Blick Auskunft geben sollen, beim Reingehen in den Berlinale-Palast oder dem Weg die gläserne Treppe nach oben oder nach dem Film wieder nach unten präsentiert die Berlinale der Virusvariante Omikron die nächsten potenziell zu Infizierenden auf dem Silbertablett.

Die Berlinale war und ist ein Publikums-Festival, lässt aber gerade mit diesem Alleinstellungsmerkmal eben dieses bewusst ins offene Messer laufen. Während zu Pressevorführungen die 2G-plus-Regel gilt, auch Geboosterte einen tagesaktuellen Test brauchen, ist der für öffentliche Veranstaltungen nicht von Nöten. Als würde Corona abends früh(er) in den Feierabend gehen und unterscheiden zwischen Branchen- und Publikumsveranstaltung.

Inkaufnahme einer Durchseuchung des eigenen Publikums

Die Berlinale verweist immer wieder darauf, dass es explizit keine Online-Sichtungsmöglichkeiten gibt. Auch nicht für während des Festivals erkrankte, berichterstattende Pressevertreter:innen. Die Macher:innen haben versäumt, auf ein Hybrid- beziehungsweise Online-Festival umzusteigen - die Filmfestivals in Sundance und Rotterdam haben es jüngst vorgemacht. Es wäre auch in Berlin gegangen, wenn man denn gewollt hätte. Aber man wollte wohl nicht.

Selbst jetzt winden sich Chatrian und Rissenbeek in Interviews, verweisen auf das Hygienekonzept. Das ist Realitätsverweigerung, die der der Regierung in nichts nachsteht. Die bewusste Inkaufnahme einer Durchseuchung des eigenen Publikums.

"Auf die Berlinale zu gehen, ist wie Russisch Roulette spielen"

Die Berlinale selbst kann wohl nicht mehr absagen, die Politik müsste es tun. Aber Claudia Roth (Grüne) scheint der erste Gang als Kulturstaatsministerin über den roten Teppich zu wichtig. "Wir wollen mit dem Festival ein Signal an die gesamte Filmbranche und die ganze Kultur setzen. Wir brauchen das Kino", sagte sie kürzlich.

Als Journalist:in auf die Berlinale zu gehen, ist wie Russisch Roulette spielen. Die Kolleg:innen, die am letzten Tag noch einen negativen Test vorweisen können, sollten mit einem Ehrenbären ausgezeichnet werden. Ja, das Kino und die Kultur brauchen starke Zeichen. Aber kein Film, vor allem kein Filmfestival der Welt ist es wert, die eigene Gesundheit und die der anderen leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Sollte die Berlinale zum Superspreader-Event werden, ist ihr Ruf – auch international – wohl endgültig ruiniert.

60 Kommentare

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  1. 60.

    Die Kritik an der Durchführung der Berlinale ist schon auf einem ganz schön hohem Niveau. Die Leute im Hintergrund geben sicherlich ihr bestes. Da hängen wahrscheinlich auch eine Menge Jobs dran. Geht halt nicht immer nur um die Festivalleiter etc. Vielleicht sollten wir dann auch einfach die vollen U-Bahn morgens im Berufsverkehr abschaffen oder den Einlass in den Supermarkt wieder regulieren. Ne ernsthaft, das wird sicherlich sehr kontrolliert durchgeführt werden. Die Berlinale will ja sicherlich auch nicht, dass das ein Superspreader Event wird. Ob man nun so ins Kino geht oder zur Berlinale. So viel Unterschied wird es da nicht geben.

  2. 59.

    Manch einer hat den Schuss noch nicht gehört und bleibt dem Lauterbachschen Inzidenzdenken verhaftet, auch wenn inzwischen Deutschland selbst das Spreader Event ist und die Hospitalisierung der Inzidenz nicht mehr folgt. Nachdem die Nachbarländern die Pandemie beenden, leidet Deutschland unter seiner Variante von Long Covid, beruhend auf Angst und Opportunismus. Es ist richtig, die Berlinale durchzuführen, es ist falsch, wenn Presse Meinung machen will. Russisch Roulette? So ein Quatsch!

  3. 58.

    Es geht ums Kino, nicht darum den 100. Film zuhause auf der Couch zu schauen. Journalist*innen denen das nicht gefällt sollen halt Netflix rezensieren. Das Publikum möchte Kino und die Berlinale ist immer noch ein Publikumsfestival. Nicht jede*r hat in den letzten zwei Jahren eine Angstneurose entwickelt. Und ja, tatsächlich: auch Eltern kleiner Kinder möchten gern mal wieder ins Kino.

  4. 56.

    "Ich hab es langsam satt von irgendwem erklärt zu bekommen, was "gefährlich" ist. Bis vor zwei Jahren durfte ich das noch weitgehend allein entscheiden und das möchte ich auch wieder. "

    Bestens auf den Punkt gebracht - vielen Dank!

  5. 55.

    Mag sein, dass in Dänemark ein paar Prozent mehr geimpft sind als bei uns - besonders in der relevanten Risikogruppe 60+.
    Nur: Wie lange sollen wir uns von diesen Herrschaften eigentlich noch in Geiselhaft nehmen lassen? Wenn die erkranken, sind sie eben selbst schuld.

    Und kommen Sie mir ja nicht mit irgendetwas von wegen "gesamtgesellschaftlicher Verantwortung" : Denn erstens wischen die Einschränkungsbefürworter die Folgen ihrer Massnahmen ja auch als Kollateralschäden vom Tisch und zweitens wäre es die Aufgabe der Politik iM LETZEN JAHR gewesen, mehr Menschen zu überzeugen und nötigenfalls eine Impflicht einzuführen (Wollte nur KEINE der maßgebenden Parteien, waren ja Wahlen...)
    Und angesichts eines solchen Versagens Einschränkungen und "Rücksichtnahme" bis zum St. Nimmerleinstag?
    Nein, irgendwann ist Schluss - für mich (fast) schon jetzt - und für das Land hoffentlich auch schon bald. Kontrollierte Öffnung und schrittweise Aufhebung aller Beschränkungen ab jetzt!

  6. 54.

    Z.b. In Dänemark ist auch eine höhere Impfquote. Das sieht in Deutschland ganz anders aus. Darum gibt es Unterschiede.

  7. 53.

    Geht mir genauso. Dieser Artikel ist bevormundend bis zum geht nicht mehr! Ich entscheide ja auch, ob ich ins Resaurant gehen möchte oder nicht. Da lässt mich auch keiner ins offene Messer laufen. Ich kenne das Risiko und entscheide, ob ich es eingehen möchte oder nicht. Das gleiche gilt für andere Kulturbetriebe oder z.B. das Fitnessstudio oder oder.... Abgsehen von den Kinovorstellungen findet die Berlinale ansonsten so gut wie gar nicht oder online statt. Ich weiß wirklich nicht, was dieser Artikel in Anbetracht der sinkenden Hospitalisierungsrate soll.

  8. 52.

    solang die kinder unter 5 jahre nicht geimpft und somit wenigstens grundimunisiert sind kann es kein normales Leben geben! Danach gerne

  9. 51.

    Letztes Jahr war die Berlinale kein Sommermärchen, sondern ein notgedrungener Albtraum. Freiluftkino ist für TIL SCHWEIGER geeignet, aber keineswegs der Rahmen für eine Rezeption von Filmen, bei denen es auf jede Nuance ankommt. Wie kann man so filmblind sein?

  10. 50.

    Wie wäre es, wenn jede(r)(s) selbst einschätzt, ob der Vorteil das Risiko übersteigt?

    Ich hab es langsam satt von irgendwem erklärt zu bekommen, was "gefährlich" ist. Bis vor zwei Jahren durfte ich das noch weitgehend allein entscheiden und das möchte ich auch wieder.

    Mir gehen diesen ganzen Kindergärtner*innen mächtig auf den Wecker, die mich vor allem Möglichen "schützen" möchten. Bei manchen fürchte ich ohnehin, daß sie selbst ohne Navigation kaum nach Hausse schaffen.

  11. 49.

    Ich auch nicht. Nobody is perfekt, aber sie müssen mich mal beim "als" und "wie" erleben ;-).

  12. 48.

    Und was sagt uns das jetzt ?
    Auf die dritte Impfung verzichten, weil man nur dann krank wird ?
    Irgendwie passt in Ihrer Argumentationskette was nicht ganz.

  13. 47.

    Es geht aber nicht nur um jeden einzelnen selbst.
    Das können Sie beim Fallschirmspringen behaupten, da gibt es meist keine Kollateralschäden wenn was schiefgeht. Hier schon..
    Immer noch nicht verstanden ?
    Sehr bedauerlich.....

  14. 46.

    Ich habe großes Verständnis für die Haltung von Anna Wollner - auch wenn ich ihre Bedenken nicht teile. Nach zwei Jahren Jahren Corona-Politik sind viele Menschen völlig verängstigt und können sich eine Rückkehr zur Normalität kaum mehr vorstellen. Als Gemeinschaft sollten wir MitbürgerInnen wie Anna Wollner sehr behutsam auf das nahende Ende der Pandemie einstimmen - um sie nicht zu überfordern.

  15. 45.

    Es sollte so langsam reichen!
    Wann wird in Deutschland endlich alles komplett geschlossen ?
    Impfen mit Booster scheinen ja nur ein gespielter Witz zu sein.
    Wofür, bitte die ganze Impforgie?
    Ich habe fertig, alles auch nach der vierten Impfung scheint wohl ein Witz an Öffnung zu sein.
    Zu ALDI kann ich auch ganz ohne alles.....

  16. 44.

    Die von Ihnen beschworene „Normalität“ ist so real wie der Weihnachtsmann oder der Osterhase und so wahrscheinlich wie der Sankt Nimmerleinstag.

  17. 43.

    Ich nehme es mit Mehr- oder Minderheiten offenbar wesentlich genauer als Sie, denn ich bezog mich mit diesem Begriffen ausdrücklich auf die allgemeine Lage - und für die ist die Ausrichtung der Berlinale nur ein kleines, wenn auch positives Signal.

    Aber wenn Sie Mehr- und Minderheit ganz direkt auf die "Berlinale" beziehen wollen, bitteschön: Bei der riesigen Zahl von Infektionen, die sich täglich ganz woanders ereignen, sind ein paar hundert Leutchen im einigermassen durchlüfteten Kino eine quantite negiable. Es mag den Übervorsichtigen nicht schmecken aber seit und mit Omikron ist die Strategie "jede Infektion auf Teufel komm raus und um jeden Preis vermeiden" obsolet, was ganz langsam auch bei den politisch Verantwortlichen ankommt.

  18. 42.

    @heidekind Ob ich den Tag noch erlebe, an dem Sie das und dass richtig anwenden?
    Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

  19. 41.

    Die Briten haben einen Oberdeppen als Premierminister. Was sollte von dort Vernünftiges oder zur Nachahmung Empfohlenes schon kommen?

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